Unsere Geschichte

Am 26. Mai 1894 erschien eine Zeitungsanzeige des Kaufmanns Ferdinand Berneburg, in der er die elenden Wohnverhältnisse geißelte, unter denen ein großer Teil der Kasseler Bevölkerung litt. Angesichts der „fast unglaublichen Zustände ist wohl Manchem die Schamesröthe ins Gesicht getreten“, schrieb Berneburg in der Annonce, in der er unter der Arbeiterschaft für die Gründung einer Wohnungsbaugenossenschaft warb.

 

Tatsächlich war die Not groß. Sie bildete die Schattenseite des raschen Aufschwungs, den Kassel seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte. Betriebe aus den Branchen Maschinenbau, Textil, Feinmechanik und Pharmazie siedelten sich an. Im Norden und Osten der Stadt entstanden Industriegebiete. Binnen weniger Jahrzehnte stieg Kassel zu einem Zentrum der deutschen Industrie auf. Einen bedeutenden Anteil daran hatten die Lokomotiv- und Waggonhersteller Henschel und Wegmann, da das Transportwesen eine Schlüsselindustrie war. „Der geradezu stürmische Ausbau des Eisenbahnnetzes nach 1871“ sei die Voraussetzung dafür gewesen, „dass Kassel zum Mittelpunkt eines größeren Wirtschaftsraumes werden konnte“, heißt es in einer wirtschaftshistorischen Studie. Und weiter: Die Firma Henschel „war das die Geschicke der Stadt bestimmende Unternehmen“.

 

Große Unternehmen brachten Tausende Arbeiter in Lohn und Brot. Doch die neue Produktionsweise in Fabriken hatte gravierende soziale Folgen: geringe Bezahlung, kaum soziale Absicherung, schlechte Gesundheitsversorgung und vor allem desolate Wohnverhältnisse. Die Bevölkerung zog in Scharen vom Land in die Städte. In Kassel stieg die Bevölkerungszahl zwischen 1871 und 1900 von 46 000 auf 106 000, also mehr als das Doppelte.

Usbeckstraße 2, Kurhessenhalle 1, 1A (1899)
Untere Königsstaße 101 und 103 (1902)

Der Wohnungsbau hielt mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Der Staat ignorierte das Problem lange Zeit, der freie Markt stellte nur begüterten Menschen akzeptablen Wohnraum zur Verfügung, die große Mehrheit der Menschen drängte sich in Elendsquartieren zusammen. Angesichts dessen war Berneburgs Appell „Hilf dir selbst. Ein Wille – ein Weg“ eine folgerichtige Konsequenz. Der Sozialreformer griff dabei die Ideen der Genossenschaftspioniere Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen zur Finanzierung von gemeinnützigem Eigentum auf.
Berneburgs Aufruf hatte Erfolg. Am 17. Juli 1894 gründeten Gleichgesinnte den Spar- und Bauverein, eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht zu Kassel, den Vorläufer des Bauvereins 1894 zu Kassel. Berneburg wurde Vorsitzender des Vorstands. Zuvor hatten sich schon der Beamten-Wohnungs-Verein zu Kassel (1889) und der Arbeiter-Bauverein in Kassel (1892) gebildet. Der Bauverein machte sich zügig daran, Kapital zu bilden, Darlehen zu beantragen und Grundstücke zu suchen. Der Geschäftsanteil für jedes Mitglied lag bei 300 Reichsmark, eine erhebliche Summe, die viele nur in wöchentlichen Raten von 30 Pfennig aufbringen konnten.

 

Nach schwierigen Verhandlungen stellten sich die ersten Erfolge ein. Die Landesversicherungsanstalt gewährte Darlehen, die Genossenschaft baute. 1897 bezogen Mieter die ersten 16 Wohnungen in zwei Häusern in der Eisenschmiede 70/72 sowie 16 Wohnungen in drei Häusern in der Schönefelder Straße 7-9 (heute An der Kurhessenhalle).  Zwei Jahre später folgten weitere Häuser in der Schönefelder Straße und in der Heinrich-Heine-Straße. Im Jahr 1902 gehörten dem Bauverein bereits knapp 150  Wohnungen. Die Mitgliederzahl wuchs auf 247. Ein hauptamtlicher Geschäftsführer konnte eingestellt werden. Trotz bescheidener Einlagen erwirtschaftete die Genossenschaft ein positives Ergebnis. Vor allem aber erreichte sie ihr Ziel: günstigen, gesunden und angemessenen Wohnraum für ihre Mitglieder zu schaffen, die über wenig Geld verfügten.

An der Kurhessenhalle 11-17 (1929/1930)

Der Erste Weltkrieg und die nachfolgenden Krisenjahre bedeuteten einen erheblichen Einschnitt. An den Bau neuer Häuser war nicht zu denken. In den 20er-Jahren förderte der sozialdemokratische Oberbürgermeister Philipp Scheidemann den Bau von Arbeitersiedlungen und stand dem Anliegen der Genossenschaften wohlgesinnt gegenüber. Der Bauverein errichtete 1928 An der Kurhessenhalle und der Usbeckstraße 26 Wohnungen, 1930 An der Kurhessenhalle und der Berneburgstraße 30 Wohnungen.

 

Der kurzen Blütezeit wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ein Ende bereitet. Die  neuen Machthaber betrachteten die Genossenschaften als Orte sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Widerstandes und versuchten, sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Hypotheken waren für den Bauverein kaum noch zu bekommen. Umso erstaunlicher, dass 1937 An der Kurhessenhalle und in der Berneburgstraße 18 Wohnungen errichtet werden konnten. Danach konzentrierte sich der Vorstand auf die Instandhaltung des mittlerweile beträchtlichen Wohnungsbestands und die Bewahrung der Eigenständigkeit. Es folgte ein Kleinkrieg mit den staatlichen Stellen. Im Juni 1941 kündigte der Gauleiter von Kurhessen die Zwangsfusion des Bauvereins mit anderen Wohnungsgenossenschaften an und sprach Drohungen aus. „Jede Einzelaktion, die nicht mit den gegebenen Richtlinien in Einklang steht, hat zu unterbleiben und wird von mir verboten.“ Der Vorstand reagierte mutig und verlangte „das Weiterbestehen der in 3 Jahren auf eine 50-jährige Existenz zurückblickenden Genossenschaft“.

 

Der verheerende Bombenangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943 machte den zähen Kampf hinfällig. 80 Prozent der Stadt wurden dabei zerstört. Von den 234 Wohnungen des Bauvereins wurden 117 zerbombt, 115 beschädigt. Zwei Wohnungen blieben unbeschädigt. Das Vermögen der Genossenschaft ging zum großen Teil im Bombenhagel unter.

Arnimstraße 2, 4, 6 (1952)

Doch der genossenschaftliche Geist war ungebrochen. Nach Kriegsende packten alle Mitglieder mit an und schon 1946 begann der Wiederaufbau. Es gelang dem Bauverein, bis 1954 alle zerstörten und beschädigten Häuser wiederherzurichten. In den Neubau in der Unteren Königsstraße 103 zog später die Geschäftsstelle, die dort bis heute ihren Sitz hat. Die Wohnungsnot blieb jedoch groß, die Mitgliederzahl des Bauvereins stieg, weitere Häuser entstanden in Rothenditmold und Niederzwehren. In den 1960er-Jahren erhielt das Thema Sanierung mehr Gewicht. 118 Wohnungen wurden modernisiert. Neubauten und Sanierungen kosteten viel Geld. Es galt, die Kräfte zu bündeln, weshalb der Bauverein 1985 mit dem Bauverein für Volkseigenheime und der Wiederaufbau Gemeinnützige Genossenschaft fusionierte. Eine „Vernunft-Ehe“, wie es in der Zeitung hieß, um die wirtschaftliche Grundlage genossenschaftlichen Handelns zu sichern.

Brentanostraße 52 (2016)

Die fusionierte Genossenschaft zählte nun 1400 Mitglieder und besaß 772 Wohnungen. In dieser Zeit, 90 Jahre nach der Gründung des Bauvereins, war der Wohnungsbedarf in Kassel erstmals weitgehend gedeckt. Das Augenmerk richtete sich deshalb auf andere Bereiche, um konkurrenzfähig und als Vermieter attraktiv zu bleiben: Modernisierung und Instandhaltung des Bestands. Erst Mitte der 1990er-Jahre entstanden Neubauten. Bis heute kamen gut 100 Wohnungen durch Zukäufe und die Bebauung eigener Grundstücke neu in den Bestand. Das größte Einzelprojekt, das 2019 abgeschlossen wurde, befindet sich im Fasanenhof in der Brentanostraße. Seit 2003 wurden dort mehrere Häuserzeilen abgerissen und durch zeitgemäße Wohnhäuser ersetzt. Dadurch sank die Zahl der Wohnungen von 114 auf 70, doch die großzügigeren Zuschnitte entsprechen den Wünschen der Mieter nach mehr Raum und Komfort.

 

Auch in den übrigen Bestand wurde investiert. Seit 2001 erhielten 125 Wohnungen Balkone. Nach und nach wurden in vielen Wohnungen neue Fenster eingebaut und Bäder saniert. Wärmedämmung war und ist ein Thema, beim Anbau der Balkone wird dies gleich mit erledigt.

 

Die größte Veränderung der vergangenen 25 Jahre betrifft den Service-Bereich. Die Ansprüche der Mitglieder steigen und der Bauverein hat darauf reagiert. Es wurde mehr Personal eingestellt, um auf Anliegen der Mitglieder schnell reagieren zu können. Im Regiebetrieb sind jetzt drei Mitarbeiter unterwegs, um Reparaturen schnell zu erledigen. Auch die gestiegenen gesetzlichen Anforderungen erfordern mehr Personal. Im Jubiläumsjahr 2019 zeigte sich der Bauverein weiterhin als Partner seiner Mitglieder.